Psychotherapeut Michael Weichselbraun: Ich habe einen schönen Beruf!

Michael Weichselbraun ist Psychotherapeut und berät als solcher Menschen allen Alters und in allen Lebenslagen. Sein Ziel bei jedem Patienten ist, sich selbst beziehungsweise die Therapie überflüssig zu machen, weil der Mensch sich (wieder) selbst zu helfen weiss. Da ihm das oft gelingt, übt er seinen Beruf gerne aus. 

Welche Fähigkeiten braucht ein Psychotherapeut?

Einfühlungsvermögen sollte man mitbringen und ein gut ausgebildetes analytisches Denken. Wichtig ist ausserdem ein professioneller Umgang mit und Abstand zu dem Patienten. Damit meine ich, dass die Abgrenzung klar sein muss und ich als Therapeut jederzeit erkennen muss, wenn eine Übertragung bzw. Gegenübertragung stattfindet. Übertragung heisst, wenn der Patient in der Therapiestunde starke Gefühle wie Ängste oder Wut mir gegenüber entwickelt, muss mir klar sein, dass dies nichts mit mir zu tun hat, sondern ich nur ein Stellvertreter bin.
 

Was sind die grössten Herausforderungen in Ihrem Beruf?

Es ist Meines Erachtens die grösste Herausforderung, bescheiden zu bleiben. Das heisst zu akzeptieren, dass ich nicht jedem und allen helfen kann. Manchmal kommt man nicht weiter in einer Therapie, dann muss man sich überlegen, ob es nicht einen Wechsel braucht. So kann beispielsweise der Aufenthalt in einer Tagesklinik oder der Wechsel des Therapeuten sinnvoll sein. Das sollte man erkennen und sich eingestehen.
 
Das Ziel von Psychotherapie muss immer sein, dass der Patient frei und unabhängig wird. Das heisst frei von der Störung wie der Depression oder der Angst und frei vom Therapeuten. Der Patient muss lernen für sich und sein Leben die Verantwortung zu übernehmen. Der Therapeut darf dem Patienten «nichts abnehmen».
 
Wenn dafür ein Therapiewechsel notwendig ist, sollte man diesen angehen. 

«Das Ziel von Psychotherapie muss immer sein, dass der Patient frei und unabhängig wird.»

Sie haben an vielen unterschiedlichen Stellen in unterschiedlichen Aufgaben gearbeitet. Welches war die intensivste Stelle?

Ich habe auch insgesamt fünf Jahre im Bereich Kinderschutz gearbeitet. Dies ist sicher die intensivste Arbeit. Man befindet sich ständig in einer Sandwichposition zwischen vielen verschiedenen Akteuren mit unterschiedlichen Erwartungen. Dies ist eine grosse Herausforderung. Dabei gilt es natürlich stets das Kindeswohl an die erste Stelle zu setzen. In der Schweiz mischt zusätzlich zur KESB die Sozialbehörde mit, weil sie eventuelle Platzierungen bezahlen muss.
 
Diese Arbeit ist mit einem hohen Aufwand und sehr vielen Umtrieben verbunden, Handlungsbevollmächtigung hat man aber als Therapeut keine. Das ist manchmal Sisyphusarbeit und sehr komplex.

Welche Probleme treffen Sie am häufigsten an in der Therapie?

Wir erleben immer wieder Wellen von ähnlichen Problemen. Eine Zeit lang hatten wir beispielsweise viele Paare mit Problemen. Im Moment erleben wir eine Zunahme von Angst-Problematiken vor allem in Richtung Mobbing, das in einem Burnout endet.  
 
Es ist ein Phänomen, das alle Schichten und Altersklassen gleichermassen betrifft. Auf meinem Sessel sassen schon Akteure aus dem Top-Management, von denen man solche Probleme eher nicht erwartet.
 
Der Ablauf ist oft ähnlich: Ein neuer Chef hält Einzug und krempelt Unternehmen oder Abteilungen um. Der Arbeitnehmer macht den gleichen Job wie vorher, das heisst leistet genauso viel wie vorher. Nur reicht dies plötzlich nicht mehr. Wenn dann seitens des Vorgesetzten Herabsetzungen und Demütigungen stattfinden, kann dies zu einen Burnout führen. Denn der Arbeitnehmer gibt sich immer mehr Mühe und erhält trotzdem eine Rüge, das kann psychisch sehr belasten.
 
Meine Empfehlung in diesem Fall ist eine längere Auszeit zu nehmen und danach zu versuchen die Beziehung wieder ins Lot zu bringen. Wenn dies nicht gelingt, muss der Arbeitnehmer über einen Stellenwechsel nachdenken. Dann ist meine Aufgabe als Therapeut, den Patienten so zu stärken, dass er sich traut diesen Schritt zu tun.

«Im Moment erleben wir eine Zunahme von Angst-Problematiken.»

Welche Therapien sind erfolgsversprechender, die der Erwachsenen oder die der Kinder?

Diese Frage kann ich nicht auf das Alter bezogen beantworten. In der Therapie mit Erwachsenen reflektiert man die eigene Geschichte.
 
Bei Kindern ist diese Reflexionsfähigkeit noch nicht gegeben. Dort geht es um etwas anderes. Als Therapeut nehme ich erst einmal die ganze Belastung auf und gebe sie dann dosiert ab. Kinder müssen erst die Emotionsregulierung lernen.
 
Bei Jugendlichen geht es oft darum herauszufinden, was ist mein Weg? Wo bin ich eingebunden? Die Jugendlichen suchen sich heutzutage nicht mehr in sich selbst, sondern im Aussen, will heissen in ihren Selfies und ihrem Instagram-Ich.
 
Das heisst also ich muss bei allen Altersgruppen andere Konzepte anwenden.
 
Als erfolgreich verbuche ich eine Therapie, wenn der Patient einen Fortschritt machen kann, wenn er weiterkommt in seinem Streben nach Unabhängigkeit und Autonomie.

«Ich freu mich jeden Tag, denn ich finde, ich habe einen schönen Beruf.»

Hat sich der Therapie-Alltag mit Corona verändert?

Wir verzeichnen sicherlich eine Zunahme von Patienten, ich bin ausgebucht. Auch die Frequenz und Intensität der Therapie hat sich verändert. Ich betreue auch Long Covid-Patienten. Bei dieser Krankheit gibt es über 274 einzelne Symptome – das muss man sich mal vorstellen.
 
Generell beobachte ich, dass die Menschen empfindlicher geworden sind. Man ist viel schneller gekränkt oder beleidigt, früher hat man mehr ertragen. Diese Empfindlichkeit hat Vor- und Nachteile. In gewissen Bereichen ist es sicher besser, dass man heute seine Befindlichkeiten äussern darf. Auf der anderen Seite führt dies auch zu mehr psychischer Belastung.
 
Dabei spielt auch die ganze Me too-Thematik eine Rolle und das Thema «Wem kann ich vertrauen?». Was darf ich und was nicht?

Wann ärgern Sie sich in Ihrem Beruf?

Wenn ich das Gefühl habe, dies oder jenes ist mir nicht gelungen, obwohl ich es mir anders vorgenommen habe. Zum Beispiel, wenn man Kindern nicht so rasch helfen kann, wie man es sich wünschen würde, ist das sehr schwierig.

Wann freuen Sie sich in Ihrem Beruf?

Ich freu mich jeden Tag, denn ich finde, ich habe einen schönen Beruf.

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Michael Weichselbraun im Podcast zum Thema Burnout

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